In der Theorie der empirischen Wissenschaft
Hypothesen
Die zentralen Fragen einer empirischen Wissenschaft betreffen Zusammenhänge, und die Antworten darauf werden als Hypothesen formuliert: Hypothesen erklären Zusammenhänge. Dabei beziehen sich Zusammenhänge immer auf Regelmäßigkeiten. Das Konzept „Zusammenhang“ kann nicht mit singulären Ereignissen in Verbindung gebracht werden.
Im Rahmen der empirischen Wissenschaft müssen Fragen nach Zusammenhängen immer einen empirischen Bezug aufweisen. D.h. Hypothesen erklären den Zusammenhang von (mindestens) zwei messbaren und variablen Merkmalen („Variablen“).
Gemäß dem Kritischen Rationalismus beschäftigen wir uns nur dann mit einer Zusammenhangsfrage, wenn eine hypothetische Antwort auf die jeweilige Frage mitgeliefert wird. Denn das, was wir machen, um solche Fragen zu beantworten, ist die Überprüfung dieser hypothetischen Antworten. Das Forschungsprogramm der empirischen Wissenschaft besteht also hauptsächlich darin, die Richtigkeit von Hypothesen zu ermitteln. Mithin müssen Hypothesen überprüfbar sein.
Fragen nach Zusammenhängen sind Fragen nach Unterschieden. Hypothesen erklären unterschiedliche Ausprägungen der einen Variable (Y) mit unterschiedlicher Ausprägung einer anderen Variable (X). Mit entsprechend terminologischer Anreicherung lässt sich damit die Struktur empirisch-wissenschaftlicher Erklärungsmodelle formulieren: das Explanans („das Erklärende“, umfasst die Hypothese X–>Y und die Randbedingung x) erklärt das Explanandum (das zu Erklärende,^y d.h. die Ausprägung von Y die gemessen werden müsste, wenn Explanans zutrifft).
Auf der Suche nach Wahrheit: deduktive Prognoselogik
Im Kern versucht empirische Wissenschaft den Wahrheitsgehalt von Hypothesen zu bestimmen. Theoretisch kann eine Hypothese wahr oder falsch sein i.S.v. „zutreffend“ oder „nichtzutreffend“ respektive. Trifft eine Hypothese zu, dann ist die Realität so, wie die Hypothese behauptet. Falls jedoch die Realität nicht so ist, wie die Hypothese behauptet, dann trifft die Hypothese eben nicht zu.
Insofern eine Hypothese eine allgemeine empirische Aussage ist, muss sie notwendig zwei Kriterien erfüllen: zum einen muss sich eine Hypothese auf eine theoretische (und mithin theoretisch unendliche) Ereignismenge beziehen – niemals auf singuläre Ereignisse. Zum anderen muss eine Hypothese eine Prognose (Explanandum) liefern. Ob die Prognose auf die Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit zeigt, ist irrelevant; „Prognose“ meint: unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Ereignis sehen [werden] oder gesehen haben. Diese Prognose wird deduktiv aus der Hypothese bestimmt (logisch abgeleitet).
Der Wahrheitsgehalt ist dann eine Funktion des Ausmaßes, in welchem die Prognosen einer Hypothese (bei entsprechenden Bedingungen) tatsächlich eingetreten sind.
Arten von Hypothesen und adäquate Erklärungsmodelle
In der Wissenschaftstheorie werden zwei Arten von Hypothesen – deterministische und probabilistische – und jeweils adäquate Typen von Erklärungsmodellen – deduktiv-nomologisches und induktiv-statistisches – diskutiert. Jedoch gibt es verschiedene Interpretationen, die aus einem unterschiedlichen Begriffsverständnis hervorgehen.
1. Interpretation: simple Variante
In dieser einfachen Variante werden deterministische Hypothesen im Rahmen eines deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells überprüft und probabilistische Hypothesen im Rahmen eines induktiv-statistischen Erklärungsmodells. Eine Gemeinsamkeit für beide Hypothesenarten ist, dass gemäß dem Kritischen Rationalismus Hypothesen niemals endgültig verifizierbar sind – und zwar aus logischen Gründen. Allerdings sind deterministische Hypothesen im deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell endgültig falsifizierbar: ein einziger Falsifikator genügt zur Falsifikation der Hypothese. Falsifikatoren sind hinsichtlich des Explanandums von der Hypothese abweichende Beobachtungen,y|x != ^y|x Hingegen sind probabilistische Hypothesen im induktiv-statistischen Erklärungsmodell nicht endgültig falsifizierbar, sondern lediglich mit einer statistisch ermittelbaren Wahrscheinlichkeit. Für probabilistische Hypothesen spielt also die Anzahl der Falsifikatoren eine Rolle, weniger ob (mindestens) ein Falsifikator beobachtet wird. Die beiden Hypothesenarten haben also einen unterschiedlichen Anspruch bezüglich ihrer Reichweite. Bezüglich der (deduktiven) Erklärungslogik unterscheiden sich die beiden Erklärungsmodelle aber nicht. Im induktiv-statistischen Modell wird aus der Hypothese abgeleitet, was – mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit – beobachtet werden müsste (Explanandum), wenn das Explanans (Hypothese und Randbedingung) zutrifft. In solchen empirischen Wissenschaften, in denen das Ausmaß der Komplexität und der Multikausalität hochgradig ist, wird daher der größte Teil der Hypothesen probabilistischen Anspruch haben.
2. Interpretation: komplexe Variante
Im Rahmen des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells (DN) bedeutet „deduktiv“, dass unter der Annahme eines wahren Explanans das Explanandum logisch daraus folgt. Das Explanandum lässt sich also aus Hypothese und Randbedingung ableiten. „Nomologisch“ meint, dass die Hypothese deterministisch ist. D.h. sie hat den Anspruch, dass jedes singuläre Explanandum entweder Verifikator oder Falsifikator ist. Das deterministische daran ist der Geltungsanspruch der Hypothese: „Eine Hypothese heißt deterministisch, wenn bei Vorliegen der Wenn-Komponente behauptet wird, dass immer die Dann-Komponente auftritt.“ (Opp, K.-D., 2014: Methodologie der Sozialwissenschaften). Vorausschauend sei hier notiert, dass Geltungsanspruch und Überprüfungsanspruch nicht koinzidieren.
Das induktiv-statistische Erklärungsmodell (IS) ist „statistisch“, insofern die Hypothese probabilistisch ist. D.h. die Hypothese hat den Anspruch, dass jedes singuläre Explanandum lediglich mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit Verifikator oder Falsifikator ist. Dieser Anspruch bedeutet, dass nur für einen Anteil der Explananda das Eintreten der entsprechenden Prognose erwartet wird. „Induktiv“ verweist auf die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Hypothese. Hinsichtlich einer konkreten Beobachtung ist das Explanandum nicht logisch aus dem Explanans ableitbar, daher muss das IS-Modell einer induktiven Überprüfungslogik folgen. Der Bezug auf eine probabilistische Hypothese erzwingt gewissermaßen die induktive Überprüfungslogik.
Diskussion und Kritik
Begrifflichkeit: „deduktiv“ vs. „induktiv“
Bei den Erklärungsmodellen werden die Begriffe „deduktiv“ (DN) und „induktiv“ (IS) jeweils vor dem Hintergrund einer anderen Logik verwendet: „deduktiv“ im DN-Modell bezieht sich auf die Prädikatenlogik, nach welcher die Aussage des Explanandums eine logisch wahre Folgerung aus den Aussagen des Explanans ist. Hingegen wird „induktiv“ im IS-Modell im Rahmen der Überprüfungslogik gebraucht, d.h. die singulären Aussagen (Randbedingung und Explanandum) werden als Prämisse behandelt, die Schlussfolgerung betrifft den Wahrheitsgehalt der Hypothese.
Bezüglich der Prognoselogik folgt auch das IS-Modell der Prädikatenlogik und ist unter diesem Aspekt ebenso deduktiv – nur dass im IS-Modell für konkrete Explananda eben Wahrscheinlichkeiten prognostiziert werden, womit konkrete Beobachtungen also nicht eindeutig Falsifikator oder Verifikator sind. Der Status von Beobachtungen als Falsifikator oder Verifikator ist aber eine Sache der Überprüfungslogik und nicht der Prognose- bzw. Prädikatenlogik.
Typen von Erklärungsmodellen
Die in der Literatur übliche Gegenüberstellung der beiden Typen – DN- und SI-Erklärungsmodell – suggeriert, dass Erklärungen entweder dem einen oder dem anderen Typus folgen. Im Rahmen der Sozialwissenschaften wird zudem oft behauptet, dass Hypothesen in diesem Bereich meistens probabilistische Hypothesen sind und das adäquate Erklärungsmodell mithin induktiv-statistisch.
Beide Punkte treffen nicht zu. Auch in den Sozialwissenschaften führen Präzisierungsbestrebungen dazu, Hypothesen als Funktion zu formulieren: ^Y=f(x) Das entspricht jedoch einer deterministischen Hypothese. Im Rahmen der Überprüfungslogik wird eine derartige Hypothese allerdings durch einen Fehlerterm ergänzt: Y=^Y+e Dieses theoretisch unbestimmte Residuum e bedeutet, dass lediglich das Ausmaß ermittelt wird, in welchem die Hypothese zutrifft. In den Sozialwissenschaften üblich und typisch wäre demnach ein „induktiv-nomologisches“ Erklärungsmodell.
Zusammenfassung der Aspekte und Neubetrachtung der Begriffe
Die (Prädikaten-) Logik in der empirischen Forschung ist zwingend deduktiv. Der Wahrheitsgehalt von Hypothesen kann methodologisch nur mit Deduktion ermittelt werden. Induktion wäre hier logisch inkonsistent, weil und insofern ein entsprechendes Vorgehen zu einem infiniten Regress führt. Induktion ist lediglich für Hypothesengenerierung (explorative Forschung) geeignet.
Die Unterscheidung der Hypothesenart in deterministisch und probabilistisch ist in der Bedeutung singulärer Beobachtungen als Falsifikator oder Verifikator begründet. Für deterministische Hypothesen sind konkrete Beobachtungen des Explanandums jeweils entweder Falsifikator oder Verifikator. Hingegen sind konkrete Beobachtungen des Explanandum für probabilistische Hypothesen mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit Falsifikator oder Verifikator.
Die Überprüfungslogik bezüglich empirischer Hypothesen ist immer induktiv: von der Datenlage wird auf Wahrheitsgehalt geschlossen. Üblicherweise scheint bei der Verwendung des „deduktiv“-„induktiv“-Begriffspaares jedoch etwas anderes gemeint zu sein. Nämlich, dass „deduktiv“ auf einen totalen Anspruch von Falsifikatoren verweisen – d.h. die Falsifikation einer Hypothese ist absolut, falls mindestens ein Falsifikator beobachtet wurde. Dagegen steht das Label „induktiv“ für den graduellen Anspruch der Falsifikatoren – d.h., dass die Falsifikation einer Hypothese einem Mengenanteil der Falsifikatoren an den vorgenommenen Beobachtungen entspricht.
Zusammengefasst lassen sich Erklärungsmodelle bzw. -schemata hinsichtlich zwei z.T. unabhängiger Dimensionen beschreiben: einerseits der Hypothese, die entweder deterministisch oder probabilistisch ist; das Erklärungsmodell ist entsprechend „nomologisch“ oder „statistisch“ respektive. Andererseits charakterisiert der Überprüfungsanspruch ein Erklärungsmodell, wobei ein strenger Anspruch auf ein „deduktives“ Modell und ein liberaler Anspruch auf ein „induktives“ Modell verweist.
Drei Kombinationen der Dimensionen sind möglich – lediglich die Kombination eines strengen Überprüfungsanspruchs mit probabilistischen Hypothesen ist nicht möglich. In den Sozialwissenschaften sollte demnach der Überprüfungsanspruch liberal sein, um die extreme Komplexität der Realität residual zu berücksichtigen.
Überprüfungsanspruch | ||
Hypothese | Streng („deduktiv“) | Liberal („induktiv“) |
Deterministisch („nomologisch“) | ja (naiv) | ja |
Probabilistisch („statistisch“) | nein | ja |