Countertroll: Die CO2-Lüge

Hinsichtlich des Aufbaus ein Paradebeispiel eines polarisierenden Troll-Posts: etwas Richtiges wird mit etwas Falschem kombiniert – um dann einigermaßen glaubwürdig (zumindest nicht von vornherein völlig unglaubwürdig) hetzen zu können. Unser Troll heute: MBRu.

Zunächst werden die Fakten von MBRu vorgetragen, dass die uns umgebende Luft zu 21 Prozent Sauerstoff, 78 Prozent Stickstoff und 1% Edelgasen und Kohlenstoffdioxid (CO2) besteht. Da wir uns ja hier auf CO2 konzentrieren: der genaue Anteil sei 0,038%. Von diesem CO2 produziert „die Natur“ 96% selber – der entsprechende Anteil in der Atmosphäre ist mithin 0,03648%. Somit ist der Anteil des anthropogenen (vom Menschen verursachten) CO2 0,00152%. Insofern Deutschland einen Anteil von 3,1% am weltweiten anthropogenen CO2 emittiert, ist der „deutsche“ Anteil des CO2 an der Luft 0,00004712%. Soweit ist das korrekt (wenn auch leicht veraltet: aktuell liegt der CO2-Anteil der Atmosphäre bei ca. 0,04%).

Nun argumentiert MBRu, dass die CO2-Reduktion eines dermaßen geringen Anteils nichts bringen könne – denn das ist ja so gut wie nichts. In Wirklichkeit sei es nämlich so, dass die grüne Politik mit dem Ziel der CO2-Reduktion darauf abzielt, der deutschen Bevölkerung wirtschaftlich zu schaden. Man solle sich nicht weiter von der Politik und den Medien belügen lassen.

Das politische Argument basiert hier offenkundig auf den physikalischen Ausführungen; eine andere Herleitung oder weitere Begründungen liefert MBRu nicht. Daher schauen wir da mal hin. Es ist so, dass das nicht-anthropogene („natürliche“) CO2 vollständig gebunden wird: hinsichtlich dieses „natürlichen“ CO2 ist der CO2-Kreislauf also geschlossen. Das anthropogene CO2 kann aber nicht vollständig „natürlich“ gebunden werden – zu einem gewissen Teil durchaus, aber eben bei weitem nicht alles. Das CO2, welches nicht gebunden werden kann, kumuliert in der Atmosphäre (der uns umgebenden Luft). Diese Kumulation des anthropogenen CO2 hat dazu geführt, dass die Konzentration des CO2 in der Atmosphäre im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um ca. 43% angestiegen ist. In absoluten Zahlen: in vorindustrieller Zeit betrug die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ca. 280ppm, gegenwärtig sind es ca. 400ppm.

Als Ignorant wissenschaftlicher Erkenntnisse sieht MBRu jedoch über diese Darstellung der Verhältnisse hinweg und führt an, dass das ja ein sehr (zu) geringer CO2-Anteil für eine spürbare Wirksamkeit ist. Aber diese Aussage kann ja sinnvollerweise nur bedeuten, dass die wirksame Menge eines Stoffes etwas mit der Verhältnisskala zu tun hätte. D.h. ein Stoff könne nur dann merklich wirksam sein, wenn sein Anteil nicht sehr klein ist. Dieses Argument ist allerdings nicht stichhaltig. Beispiel: Wenn ich einer Menge von 9999mg Wasser ein 1mg Kochsalzkorn dazugebe, dann wird sich das Salz darin kaum messbar auf mich auswirken, wenn ich dieses Wasser trinke. Gebe ich statt dem Kochsalz jedoch 1mg Plutonium hinzu, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu DNA-Beschädigungen führen. Eine Veränderung auf der fünften Nachkommastelle einer Prozentangabe kann unbedeutend sein – oder gigantisch (Es ist übrigens egal, ob ich 1mg Plutonium mit 10g Wasser oder mit 1kg Wasser konsumiere; die Gefährlichkeit bleibt davon unberührt). Das hängt eben vom Stoff ab und nicht davon, ob wir im Alltag so eine Zahl als klein interpretieren.

Nun ja, man kann nicht alles wissen, so ist das eben. Das ist auch nicht mein Kritikpunkt an MBRu. Aber der Wissenschaft, Politik und Medien in Gänze oder weitgehend verallgemeinernd eine hinterhältige Agenda vorzuwerfen und der Lüge zu bezichtigen – das ist nicht akzeptabel.

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Technical note: Previous performance as predictor and condition in the performance model

https://www.researchgate.net/publication/363709201_Technical_note_Previous_performance_as_predictor_and_condition_in_the_performance_model

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Power Analysis for a-priori determination of sample size

https://www.foerster-m.de/blog/Power_AnalysisN.html

Power Analysis is actually just the conversion of an equation in which the statistical test power is a central quantity. In general, this is understood to mean the conversion according to a sample size n, which is at least necessary to achieve a certain test power. The statistical test power is the complementary probability to the…

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Meditation über Entropie

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Erklärungsmodelle

In der Theorie der empirischen Wissenschaft

Hypothesen

Die zentralen Fragen einer empirischen Wissenschaft betreffen Zusammenhänge, und die Antworten darauf werden als Hypothesen formuliert: Hypothesen erklären Zusammenhänge. Dabei beziehen sich Zusammenhänge immer auf Regelmäßigkeiten. Das Konzept „Zusammenhang“ kann nicht mit singulären Ereignissen in Verbindung gebracht werden.

Im Rahmen der empirischen Wissenschaft müssen Fragen nach Zusammenhängen immer einen empirischen Bezug aufweisen. D.h. Hypothesen erklären den Zusammenhang von (mindestens) zwei messbaren und variablen Merkmalen („Variablen“).

Gemäß dem Kritischen Rationalismus beschäftigen wir uns nur dann mit einer Zusammenhangsfrage, wenn eine hypothetische Antwort auf die jeweilige Frage mitgeliefert wird. Denn das, was wir machen, um solche Fragen zu beantworten, ist die Überprüfung dieser hypothetischen Antworten. Das Forschungsprogramm der empirischen Wissenschaft besteht also hauptsächlich darin, die Richtigkeit von Hypothesen zu ermitteln. Mithin müssen Hypothesen überprüfbar sein.

Fragen nach Zusammenhängen sind Fragen nach Unterschieden. Hypothesen erklären unterschiedliche Ausprägungen der einen Variable (Y) mit unterschiedlicher Ausprägung einer anderen Variable (X). Mit entsprechend terminologischer Anreicherung lässt sich damit die Struktur empirisch-wissenschaftlicher Erklärungsmodelle formulieren: das Explanans („das Erklärende“, umfasst die Hypothese X–>Y und die Randbedingung x) erklärt das Explanandum (das zu Erklärende,^y d.h. die Ausprägung von Y die gemessen werden müsste, wenn Explanans zutrifft).

Auf der Suche nach Wahrheit: deduktive Prognoselogik

Im Kern versucht empirische Wissenschaft den Wahrheitsgehalt von Hypothesen zu bestimmen. Theoretisch kann eine Hypothese wahr oder falsch sein i.S.v. „zutreffend“ oder „nichtzutreffend“ respektive. Trifft eine Hypothese zu, dann ist die Realität so, wie die Hypothese behauptet. Falls jedoch die Realität nicht so ist, wie die Hypothese behauptet, dann trifft die Hypothese eben nicht zu.

Insofern eine Hypothese eine allgemeine empirische Aussage ist, muss sie notwendig zwei Kriterien erfüllen: zum einen muss sich eine Hypothese auf eine theoretische (und mithin theoretisch unendliche) Ereignismenge beziehen – niemals auf singuläre Ereignisse. Zum anderen muss eine Hypothese eine Prognose (Explanandum) liefern. Ob die Prognose auf die Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit zeigt, ist irrelevant; „Prognose“ meint: unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Ereignis sehen [werden] oder gesehen haben. Diese Prognose wird deduktiv aus der Hypothese bestimmt (logisch abgeleitet).

Der Wahrheitsgehalt ist dann eine Funktion des Ausmaßes, in welchem die Prognosen einer Hypothese (bei entsprechenden Bedingungen) tatsächlich eingetreten sind.

Arten von Hypothesen und adäquate Erklärungsmodelle

In der Wissenschaftstheorie werden zwei Arten von Hypothesendeterministische und probabilistische – und jeweils adäquate Typen von Erklärungsmodellendeduktiv-nomologisches und induktiv-statistisches – diskutiert. Jedoch gibt es verschiedene Interpretationen, die aus einem unterschiedlichen Begriffsverständnis hervorgehen.

1.      Interpretation: simple Variante

In dieser einfachen Variante werden deterministische Hypothesen im Rahmen eines deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells überprüft und probabilistische Hypothesen im Rahmen eines induktiv-statistischen Erklärungsmodells. Eine Gemeinsamkeit für beide Hypothesenarten ist, dass gemäß dem Kritischen Rationalismus Hypothesen niemals endgültig verifizierbar sind – und zwar aus logischen Gründen. Allerdings sind deterministische Hypothesen im deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell endgültig falsifizierbar: ein einziger Falsifikator genügt zur Falsifikation der Hypothese. Falsifikatoren sind hinsichtlich des Explanandums von der Hypothese abweichende Beobachtungen,y|x != ^y|x Hingegen sind probabilistische Hypothesen im induktiv-statistischen Erklärungsmodell nicht endgültig falsifizierbar, sondern lediglich mit einer statistisch ermittelbaren Wahrscheinlichkeit. Für probabilistische Hypothesen spielt also die Anzahl der Falsifikatoren eine Rolle, weniger ob (mindestens) ein Falsifikator beobachtet wird. Die beiden Hypothesenarten haben also einen unterschiedlichen Anspruch bezüglich ihrer Reichweite. Bezüglich der (deduktiven) Erklärungslogik unterscheiden sich die beiden Erklärungsmodelle aber nicht. Im induktiv-statistischen Modell wird aus der Hypothese abgeleitet, was – mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit – beobachtet werden müsste (Explanandum), wenn das Explanans (Hypothese und Randbedingung) zutrifft. In solchen empirischen Wissenschaften, in denen das Ausmaß der Komplexität und der Multikausalität hochgradig ist, wird daher der größte Teil der Hypothesen probabilistischen Anspruch haben.

2.      Interpretation: komplexe Variante

Im Rahmen des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells (DN) bedeutet „deduktiv“, dass unter der Annahme eines wahren Explanans das Explanandum logisch daraus folgt. Das Explanandum lässt sich also aus Hypothese und Randbedingung ableiten. „Nomologisch“ meint, dass die Hypothese deterministisch ist. D.h. sie hat den Anspruch, dass jedes singuläre Explanandum entweder Verifikator oder Falsifikator ist. Das deterministische daran ist der Geltungsanspruch der Hypothese: „Eine Hypothese heißt deterministisch, wenn bei Vorliegen der Wenn-Komponente behauptet wird, dass immer die Dann-Komponente auftritt.“ (Opp, K.-D., 2014: Methodologie der Sozialwissenschaften). Vorausschauend sei hier notiert, dass Geltungsanspruch und Überprüfungsanspruch nicht koinzidieren.

Das induktiv-statistische Erklärungsmodell (IS) ist „statistisch“, insofern die Hypothese probabilistisch ist. D.h. die Hypothese hat den Anspruch, dass jedes singuläre Explanandum lediglich mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit Verifikator oder Falsifikator ist. Dieser Anspruch bedeutet, dass nur für einen Anteil der Explananda das Eintreten der entsprechenden Prognose erwartet wird. „Induktiv“ verweist auf die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Hypothese. Hinsichtlich einer konkreten Beobachtung ist das Explanandum nicht logisch aus dem Explanans ableitbar, daher muss das IS-Modell einer induktiven Überprüfungslogik folgen. Der Bezug auf eine probabilistische Hypothese erzwingt gewissermaßen die induktive Überprüfungslogik.

Diskussion und Kritik

Begrifflichkeit: „deduktiv“ vs. „induktiv“

Bei den Erklärungsmodellen werden die Begriffe „deduktiv“ (DN) und „induktiv“ (IS) jeweils vor dem Hintergrund einer anderen Logik verwendet: „deduktiv“ im DN-Modell bezieht sich auf die Prädikatenlogik, nach welcher die Aussage des Explanandums eine logisch wahre Folgerung aus den Aussagen des Explanans ist. Hingegen wird „induktiv“ im IS-Modell im Rahmen der Überprüfungslogik gebraucht, d.h. die singulären Aussagen (Randbedingung und Explanandum) werden als Prämisse behandelt, die Schlussfolgerung betrifft den Wahrheitsgehalt der Hypothese.

Bezüglich der Prognoselogik folgt auch das IS-Modell der Prädikatenlogik und ist unter diesem Aspekt ebenso deduktiv – nur dass im IS-Modell für konkrete Explananda eben Wahrscheinlichkeiten prognostiziert werden, womit konkrete Beobachtungen also nicht eindeutig Falsifikator oder Verifikator sind. Der Status von Beobachtungen als Falsifikator oder Verifikator ist aber eine Sache der Überprüfungslogik und nicht der Prognose- bzw. Prädikatenlogik.

Typen von Erklärungsmodellen

Die in der Literatur übliche Gegenüberstellung der beiden Typen – DN- und SI-Erklärungsmodell – suggeriert, dass Erklärungen entweder dem einen oder dem anderen Typus folgen. Im Rahmen der Sozialwissenschaften wird zudem oft behauptet, dass Hypothesen in diesem Bereich meistens probabilistische Hypothesen sind und das adäquate Erklärungsmodell mithin induktiv-statistisch.

Beide Punkte treffen nicht zu. Auch in den Sozialwissenschaften führen Präzisierungsbestrebungen dazu, Hypothesen als Funktion zu formulieren: ^Y=f(x) Das entspricht jedoch einer deterministischen Hypothese. Im Rahmen der Überprüfungslogik wird eine derartige Hypothese allerdings durch einen Fehlerterm ergänzt: Y=^Y+e Dieses theoretisch unbestimmte Residuum e bedeutet, dass lediglich das Ausmaß ermittelt wird, in welchem die Hypothese zutrifft. In den Sozialwissenschaften üblich und typisch wäre demnach ein „induktiv-nomologisches“ Erklärungsmodell.

Zusammenfassung der Aspekte und Neubetrachtung der Begriffe

Die (Prädikaten-) Logik in der empirischen Forschung ist zwingend deduktiv. Der Wahrheitsgehalt von Hypothesen kann methodologisch nur mit Deduktion ermittelt werden. Induktion wäre hier logisch inkonsistent, weil und insofern ein entsprechendes Vorgehen zu einem infiniten Regress führt. Induktion ist lediglich für Hypothesengenerierung (explorative Forschung) geeignet.

Die Unterscheidung der Hypothesenart in deterministisch und probabilistisch ist in der Bedeutung singulärer Beobachtungen als Falsifikator oder Verifikator begründet. Für deterministische Hypothesen sind konkrete Beobachtungen des Explanandums jeweils entweder Falsifikator oder Verifikator. Hingegen sind konkrete Beobachtungen des Explanandum für probabilistische Hypothesen mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit Falsifikator oder Verifikator.

Die Überprüfungslogik bezüglich empirischer Hypothesen ist immer induktiv: von der Datenlage wird auf Wahrheitsgehalt geschlossen. Üblicherweise scheint bei der Verwendung des „deduktiv“-„induktiv“-Begriffspaares jedoch etwas anderes gemeint zu sein. Nämlich, dass „deduktiv“ auf einen totalen Anspruch von Falsifikatoren verweisen – d.h. die Falsifikation einer Hypothese ist absolut, falls mindestens ein Falsifikator beobachtet wurde. Dagegen steht das Label „induktiv“ für den graduellen Anspruch der Falsifikatoren – d.h., dass die Falsifikation einer Hypothese einem Mengenanteil der Falsifikatoren an den vorgenommenen Beobachtungen entspricht.

Zusammengefasst lassen sich Erklärungsmodelle bzw. -schemata hinsichtlich zwei z.T. unabhängiger Dimensionen beschreiben: einerseits der Hypothese, die entweder deterministisch oder probabilistisch ist; das Erklärungsmodell ist entsprechend „nomologisch“ oder „statistisch“ respektive. Andererseits charakterisiert der Überprüfungsanspruch ein Erklärungsmodell, wobei ein strenger Anspruch auf ein „deduktives“ Modell und ein liberaler Anspruch auf ein „induktives“ Modell verweist.

Drei Kombinationen der Dimensionen sind möglich – lediglich die Kombination eines strengen Überprüfungsanspruchs mit probabilistischen Hypothesen ist nicht möglich. In den Sozialwissenschaften sollte demnach der Überprüfungsanspruch liberal sein, um die extreme Komplexität der Realität residual zu berücksichtigen.

  Überprüfungsanspruch
Hypothese Streng („deduktiv“) Liberal („induktiv“)
Deterministisch („nomologisch“) ja (naiv) ja
Probabilistisch („statistisch“) nein ja
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Gesunde Ernährung

Eine Replik

Die Behauptung

Die primäre Message des Blog-Beitrags von Knop (2022) wird bereits mit dem Titel formuliert: „Gesunde Ernährung – ein Mythos zerfällt: kein Herzschutz, kein Krebsschutz und … Pommes so ‚gesund‘ wie Mandeln!“. Propagiert würde dieser „Mythos“ durch die Ernährungswissenschaften, denen es jedoch an „echter Kausalevidenz“ fehle und die stattdessen die Bürger mit „Gesundheitswolken benebelt“.

Wer so formulierte Vorwürfe öffentlich und öffentlichkeitswirksam erhebt, sollte sich sicher sein, nicht auf zu dünnem Eis zu stehen. D.h. die Vorwürfe – und es sind Vorwürfe, nicht lediglich die im Wissenschaftsbetrieb quasi eingebaute Kritik – sollten stichhaltig sein: die Argumentation des Blog-Autors zielt auf methodische/methodologische Aspekte und sollte sich daher auch methodisch/methodologisch behaupten können. Auf der Bühne, auf die man sich stellt, wird man beurteilt.

Kein Herzschutz durch Gemüse?

Um diese konkrete Aussage zu untermauern, rekurriert der Autor auf eine Studie (Feng et al., 2022), in welcher Daten der UK Biobank ausgewertet wurden. Das daraus gewonnene Hauptargument ist, dass die beobachteten Effekte früherer Studien auf Störfaktoren zurückzuführen seien.

Das Berücksichtigen von Störfaktoren ist ja zunächst tatsächlich ein wichtiges Kriterium für Kausalevidenz bei nicht-experimentellen Studien. Werden Störfaktoren nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, dass es die ermittelten Wirkungen der untersuchten Faktoren tatsächlich gar nicht gibt – sondern dass entsprechende Effekte eigentlich den Störfaktoren zugeschrieben werden müssten (worauf jedoch nur bei Berücksichtigung der Störfaktoren kontrolliert werden kann). Beispiel: wenn eine Korrelation (=statistischer Zusammenhang) zwischen der Anzahl von Störchen in bestimmten Gebieten und der Geburtenrate in den jeweiligen Gebieten ermittelt wird, dann wird unter statistischer Kontrolle auf den Störfaktor Urbanisierungsgrad der Effekt der Storchenzahl womöglich verschwinden. Sowohl die Geburtenrate als auch die Anzahl der Störche in den untersuchten Gebieten hängen in diesem Szenario vom Urbanisierungsgrad ab. Umgekehrt gilt jedoch nicht, dass die Anzahl der Störche ein Störfaktor für den Effekt des Urbanisierungsgrades auf die Geburtenrate ist, weil und insofern die Storchenzahl nicht den Urbanisierungsgrad beeinflusst.

Die Ursache-Wirkungs-Richtung ist beim Thema Störfaktoren also entscheidend. Und nun zu den vermuteten Störfaktoren aus der UK Biobank-Studie: Diabetes, Bluthochdruck, BMI, Einnahme von Statinen, Insulinbehandlung etc. Also wenn diese Faktoren als ursächlich für gemüsehaltige Kost (und für „Herzgesundheit“) aufgefasst werden – dann, ja, können hier Störfaktoren erkannt werden. Aber nach allem was wir wissen, ist im Gegenteil die Ernährung (mit-) ursächlich für die meisten der genannten Faktoren. In diesem Sinne können die genannten Faktoren eben gar keine Störfaktoren sein, sondern stattdessen eben genau die Pfade (technisch: „Mediatoren“), über die Ernährung wirkt. Oder hat ernsthaft jemand behauptet, dass gegessenes Gemüse das Herz in einen Kokon hüllt, der vor allerlei Unheil schützt?

Ferner gilt es, darauf hinzuweisen, dass die zitierte Studie die Auswirkungen der Ernährung auf einen äußerst eng gefassten Begriff der kardio-vaskulären Gesundheit untersucht: nämlich die durch eine Herzerkrankung ausgelöste Hospitalisierung oder der damit assoziierte Tod. In dieser Lesart ist die Herzgesundheit also nur dann negativ beeinträchtigt, wenn eine Person wegen kardio-vaskulären Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert oder auf dem Friedhof beigesetzt wird.

Kein Krebsschutz durch „gesunde Ernährung“?

Zu diesem Thema finden sich im Blog-Artikel die gleichen argumentativen Schwächen wie zur Herzgesundheit: das Vorliegen indirekter Effekte bzw. von Kausalketten („Mediatoren“) wird ignoriert oder mit dem Vorliegen von Störfaktoren verwechselt. Statt auf gesunde Ernährung solle man sich lieber darum bemühen, die „Risikofaktoren für Krebs, insbesondere Fettleibigkeit und Alkoholkonsum, zu verhindern“. Also diese Aussage hätte nur dann einen greifbaren Sinn, wenn Fettleibigkeit nichts mit gesunder Ernährung zu tun hat.

Eine Schwäche müsste der unter dieser Überschrift begutachteten Studie (Papadimitriou et al., 2021), die der Blog-Autor als Beleg für seine Kritik anführt, zum Vorwurf gemacht werden: die sogenannte Irrtumswahrscheinlichkeit, die bei der statistischen Überprüfung von Zusammenhängen ermittelt wird, als Effektstärke zu interpretieren, ist mindestens fragwürdig.

Pommes so „gesund“ wie Mandeln!

Den letzten Abschnitt des Blog-Texts beginnt der Autor mit der Behauptung, RCT („Randomized Controlled Trial“) sei der „Goldstandard“ unter den Untersuchungsdesigns. Das ist aber nur zum Teil richtig: durch die zufällige Aufteilung der Probanden auf die „Pommes-Gruppe“ und die „Mandel-Gruppe“ wird per se auf Störfaktoren kontrolliert; evtl. auftretende Störfaktoren mitteln sich gegenseitig aus. Schließlich werden keine einzelnen Personen verglichen, sondern die Durchschnittswerte der beiden Gruppen hinsichtlich der Gesundheit. Unter dem Aspekt der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Lebenswelt außerhalb derartig künstlich herbeigeführter Situationen ist RCT jedoch nicht der Goldstandard, sondern ein nicht zu unterschätzendes Problem. Denn das gesamte Setting eines solchen Versuchsaufbaus, inklusive der stark beschränkten Möglichkeiten, die Gabe von Pommes bzw. Mandeln vor den Versuchspersonen zu verbergen, können einen erheblichen Einfluss auf die Probanden und deren Verhalten (auch unter gesundheitlichem Aspekt) haben.

Dann kritisiert der Blog-Autor aber überraschender- und zum Teil auch richtigerweise genau diejenige Studie (Smith et al., 2022), die zu dem Schluss kommt, dass Pommes so gesund wie Mandeln seien. Da werden nämlich gar nicht die Auswirkungen auf die tatsächliche Gesundheit bzw. das Erkrankungsrisiko untersucht, sondern lediglich auf bestimmte Biomarker, die eher schwache Hinweise auf gesundheitliche Risiken geben. Zudem erfolgte die entsprechende Untersuchung lediglich für 30 Tage. Letztlich erschließt sich mir nicht, wie die Diskussion dieser Studie in die Argumentation des Blog-Beitrags passt: ist nun das vom Blog-Autor als Schlagzeile formulierte Ergebnis der Studie („Pommes so gesund wie Mandeln!“) robust oder wegen der angeführten Schwächen kaum belastbar? Oder soll aus der geschaffenen Verwirrung ein grundsätzliches Argument gegen wissenschaftliche Forschung latent weitergesponnen werden?

Dieser Verdacht ist nicht völlig abwegig, insofern als Nächstes Stellung gegen zwei PREDIMED-Studien, Estruch et al. (2013) und Salas-Salvadó et al. (2014), bezogen wird (- hier ist der Blog-Artikel nicht ganz klar formuliert und es kann der Eindruck entstehen, dass hier über eine Studie geredet wird -), die zu dem Schluss kommen, dass mediterrane Ernährung gesundheitsförderlich ist. Besagten Studien werden Fehler beim methodischen Aufbau bzw. der statistischen Auswertung vorgeworfen. Dann wird geschlussfolgert, dass die berichteten Ergebnisse also nicht stimmen können. Zunächst: Kritik ist in beiden Fällen durchaus berechtigt. Der Blog-Autor führt als Quelle zum einen die „Unstatistik des Monats“ (www.unstatistik.de) an. Das vollständige „Unstatistik“-Zitat bezüglich Salas-Salvadó et al. (2014) scheint jedoch einen etwas anderen Schwerpunkt zu vermitteln, als der vom Blog-Artikel suggerierte statistische Auswertungsfehler: „Was diese Meldung zur ‚Unstatistik‘ macht, ist nicht, dass […] mediterrane Kost nicht gesund wäre. Es geht darum, wie diese Information kommuniziert wird“. Und das Ärzteblatt (www.aerzteblatt.de) schreibt mit Blick auf Estruch et al. (2013), dass diese „wegen statistischer Ungereimtheiten von den Autoren zurückgezogen“ wurde. Aber weiter heißt es dort: „Eine bereinigte Analyse der Ergebnisse […] bestätigt allerdings die ursprünglichen Ergebnisse, nach denen eine mediterrane Diät mit Olivenöl oder Nüssen […] vor kardiovaskulären Ereignissen schützen kann“ (s. Estruch et al., 2018).

Fazit

Die Argumentation des Blog-Artikels verstärkt hier möglicherweise ein verbreitetes Missverständnis über die grundsätzliche Funktionsweise von evidenzbasierter Wissenschaft: dass hinsichtlich sehr komplexer Themen teilweise widersprüchliche Forschungsergebnisse zustande kommen können, ist nicht nur ganz normal, sondern es ist der Antrieb für wissenschaftlichen Fortschritt. Zwar leisten auch methodisch nicht sehr gut durchgeführte Studien einen Beitrag zu einer in diesem Sinne unübersichtlichen Lage. Wesentlich häufiger sehen wir darin aber einen Verweis auf den Dauerzustand der „Unfertigkeit des Wissens“.

Jedoch: von diesem unbestimmten Zustand der Wissenschaft auf eine legitime Beliebigkeit bei der Auswahl von Forschungsergebnissen zu folgern, ist ein Fehlschluss. „Cherry Picking“ – das einseitige Auswählen von Forschungsresultaten, welche die eigene Position bestätigen – ist quasi Wissensbetrug. Gleiches gilt für die scheinheilige Anklage, dass wissenschaftliche Studien offenbar keine endgültigen Beweise (für was auch immer) liefern können. Dass sie das nicht können ist eine Sache der Logik und eigentlich ein ganz anderes Thema. Aber ohne darauf näher einzugehen, fordere ich doch ein Minimum an argumentativer Schlüssigkeit. Keinen endgültigen Beweis für etwas zu finden, heißt noch lange nicht, das Gegenteil bewiesen zu haben. Der Autor verkauft jedoch genau diesen Fehlschluss: „Und die Moral von der Geschicht‘? Beweise für gesunde Ernährung gibt es nicht! […] Vertrauen Sie beim Essen nur auf den, der weiß, was wirklich gut für sie ist: Ihr eigener Körper. […] Es gibt so viele gesunde Ernährungen, wie es Menschen gibt, denn: jeder Mensch is(s)t anders“.

Ich möchte ja nicht anzweifeln, dass Selbstbetrug im Alltag gewisse Funktionen haben kann. Aber die Betonung liegt auf „Selbst“. Es ist eine Anmaßung, diesen Betrug ungefragt für andere Menschen durchzuführen.

Referenzen

Estruch, R. et al. (2013). Primary prevention of cardiovascular disease with a mediterranean diet. New England Journal of Medicine, 368,1279-1290. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1200303

Estruch, R. et al. (2018). Primary prevention of cardiovascular disease with a mediterranean diet supplemented with extra-virgin olive oil or nuts. New England Journal of Medicine. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1800389

Feng, Q., Kim, J. H., Omiyale, W., Besevic, J., Conroy, M., May, M., Xang, Z., Wong, S. Y., Tsoi, K. K., Allen, N. & Lacey, B. (2022). Raw and cooked vegetable consumption and risk of cardiovascular disease: A study of 400,000 adults in UK Biobank. Frontiers in Nutrition, 9. https://doi.org/10.3389/fnut.2022.831470

Knop, U. (2022). Gesunde Ernährung – ein Mythos zerfällt: kein Herzschutz, kein Krebsschutz und … Pommes so „gesund“ wie Mandeln! https://www.xing.com/news/insiders/articles/gesunde-ernahrung-ein-mythos-zerfallt-kein-herzschutz-kein-krebsschutz-und-pommes-so-gesund-wie-mandeln-4682416 (13.04.2022)

Papadimitriou, N., Markkozannes, G., Kanellopoulou, A., Critselis, E., Alhardan, S., Karafousia, V., Kasimis, J. C., Katsaraki, C., Papadopoulou, A., Zografou, M., Lopez, D. S., Chan. D. S. M., Kyrgiou, M., Ntzani, E., Cross, A. J., Marrone, M. T., Platz, E. A., Gunter, M. J. & Tsilidis, K. K. (2021). An umbrella review of the evidence associating diet and cancer risk at 11 anatomical sites. Nature Communications, 12. https://doi.org/10.1038/s41467-021-24861-8

Salas-Salvadó, J. et al. (2014). Prevention of diabetes with mediterranean diets. Annals of Internal Medicine, 160,1-10.

Smith, D. L., Hanson, R. L., Dickinson, S. L., Chen, X., Goss, A. M., Cleek, J. B., Garvey, W. T. & Allison, D. B. (2022). French-fried potato consumption and energy balance: a randomized controlled trial. American Journal of Clinical Nutrition. https://doi.org/10.1093/ajcn/nqac045

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What would Trump say?

No. 3

The doctor who treated me for Corona had 30 other Corona patients. So, my share of the Corona patients was about 3.3% – that is, all other patients had a share of about 96.7%. My share was significantly lower!  This is clear evidence that the best protection against Corona is „being Trump“.

Zwar nicht so zugespitzt, aber im Kern ebenso wirr war die Argumentation von Chrupalla in einem Interview (ZDF-Morgenmagazin moma, am 27.12.2021).

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Herrschaft der Statistiker!

Achtung, Achtung! Wir unterbrechen unser Programm für eine wichtige Sondermeldung!

Die Statistiker haben die Herrschaft übernommen!

Diese schockierende Nachricht wurde uns soeben von RD #Precht übermittelt. Nachdem sich unsere Quelle schon vor längerer Zeit die Frage stellte, wer und wie viele er ist, hat er nun im Zusammenhang mit der Recherche zur dunklen Statistik eine Antwort darauf gefunden: sehr viele – u.a. Virologe, Jurist, Neurologe, Honkologe. Da er zum Teil auch Statistiker ist, konnte er mit einzigartigem Insiderwissen die finsteren Machenschaften der Statistiker aufdecken.

Allerdings konnte weiterhin in Erfahrung gebracht werden, dass sich tief im Inneren der Erde eine Befreiungsbewegung formiert. Die Waffe, die dort entwickelt wird, hat es in sich. Es wurde nun bekanntgegeben, dass es sich dabei um die Neue Statistik (alternative Codenamen: „Helle Statistik“, „Lichtstatistik“) handelt. Damit werden wir den dunklen Statistik-Lords zeigen, wo die Varianz ihre Null hat. Mit der Neuen Statistik werden wir nichts dem Zufall überlassen! Spread the news!

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The effects of income inequality on the willingness to contribute to environmental sustainability

(2021). The effects of income inequality on the willingness to contribute to environmental sustainability. Journal of Environmental Economics and Policy. Ahead of Print.

Quelle: The effects of income inequality on the willingness to contribute to environmental sustainability

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countertroll

Troll: Jeder Fünfte stirbt vor dem 69. Lebensjahr.

Nein. Unter der Annahme gleicher altersbedingter Verteilung der Sterbefälle (destatis, 2019) und gleichbleibender Lebenserwartung (!) werden von den heute in Deutschland lebenden Personen nicht 20% (=jeder Fünfte) vor dem 69. Lebensjahr gestorben sein, sondern 13%. Insofern tatsächlich die Lebenserwartung in Deutschland steigt, ist diese Zahl wohl eher zu hoch eingeschätzt.

Troll: Und ihr wollt die Lebensarbeitszeit erhöhen?

Wer ist „ihr“? Wer will die Lebensarbeitszeit erhöhen?

Troll: Dann erreichen Millionen ihre Rente nicht mehr!

Bereits heute „erreichen Millionen ihre Rente nicht“: mit den gleichen Prämissen werden 10% vor ihrem 66. Lebensjahr gestorben sein; und 11% vor ihrem 67. Lebensjahr.

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